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Wasser stellt Ansprüche

22. Juni 2012 | Andri Bryner

Gewässer liefern zahlreiche Dienstleistungen, zum Beispiel für die Trinkwasserversorgung, den Tourismus oder die Fischerei. Müsste die Gesellschaft diese Leistungen mit technischen Massnahmen bereitstellen, wäre das sehr teuer, in zahlreichen Fällen wohl gar nicht möglich. Doch der Lebensraum Wasser stellt auch Ansprüche: zum Beispiel, dass der Mensch den Gewässern auch nach Ableitungen ausreichend Wasser belässt, oder dass sie von Schadstoffen und übermässigem Nährstoffeintrag bewahrt werden.

Ausreichend Wasser – intelligentes Restwassermanagement

Mit dem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft ist der Druck auf die Restwasserbestimmungen des Bundes gewachsen. Kantone und Kraftwerke möchten möglichst viel Wasser zur Stromproduktion nutzen und unterhalb von Wasserfassungen entsprechend wenig in den Bächen belassen. Eine seit 12 Jahren laufende Studie der Eawag am Spöl im Nationalpark zeigt, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, Restwasserstrecken ökologisch aufzuwerten, ohne die Stromproduktion untragbar einzuschränken. Vor dem Bau des Livigno-Stausees (1970) betrug der Abfluss des Spöls zwischen 6 und 12 Kubikmetern pro Sekunde mit Spitzen bis zu 120 m3/s. Nach dem Bau der Staumauer beliess man dem Fluss noch 0,55 m3/s im Winter und 1,45 m3/s im Sommer. Die Folgen dieser konstant tiefen Abflussmengen waren verheerend: Das Flussbett verdichtete sich, weil Feinmaterial nicht mehr ausgespült wurde. Anstelle von angepassten Bergbach-Spezialisten wurde der Spöl mit Allerweltsorganismen besiedelt, die auch im Flachland und im ruhigen Wasser vorkommen. Seit dem Jahr 2000 wird nun die konstante Restwassermenge im Rahmen der Studie ein- bis dreimal jährlich während einiger Stunden bis Tagen durch künstliche Flutungen unterbrochen. Dafür kann das Kraftwerk auf die ökologisch nutzlose Erhöhung der Restwassermenge während der touristischen Hochsaison verzichten. So ist das neue Abflussregime kostenneutral. Heute lässt sich nachweisen, dass der Spöl unterhalb der Livigno-Staumauer wieder Lebensbedingungen und eine Artenzusammensetzung aufweist, die sich denjenigen eines vergleichbaren natürlichen alpinen Bachs annähern. Zum Beispiel hat sich die Zahl der Laichgruben der Bachforellen seit 2000 fast verdreifacht und statt grossgewachsenen Bachflohkrebschen sind wieder alpine Spezialisten wie kleingewachsene Eintagsfliegen häufiger geworden.

Hormonaktive Substanzen: Wirksam unter der Nachweisgrenze

Langlebige Chemikalien gelangen über kurz oder lang auch in die Umwelt, sei es nun aus Haushalt, Baustoffen, der Landwirtschaft oder aus Medikamenten. Verstärkt ins Visier genommen hat die Wissenschaft in den letzten Jahren Stoffe, die hormonähnliche Wirkungen zeigen. Das sind nicht nur die Wirkstoffe aus der Antibabypille, sondern auch aus Flamm- oder Korrosionsschutzmitteln, Weichmachern und zahlreichen weiteren Substanzen. Einzelne Wirkstoffe sind derart potent, dass sie zwar nachweislich auf Organismen wirken, jedoch bereits in derart kleinen Konzentrationen (unter einem Milliardstel Gramm pro Liter), dass sie selbst mit moderner Analytik gar nicht nachgewiesen werden können. Biotests, zum Beispiel mit Hefezellen, sind wesentlich empfindlicher und geben auch Aufschluss über die summierte Wirkung mehrerer Substanzen. Das Zentrum für angewandte Ökotoxikologie der Eawag und der ETH Lausanne prüft daher, mit welchen Biotests eine Belastung der Gewässer durch Mikroverunreinigungen gemessen und beurteilt werden kann. Dieselben Tests können auch eingesetzt werden, um die Wirksamkeit zusätzlicher Reinigungsstufen in Kläranlagen zu beurteilen, wie sie aktuell vom Bund vorangetrieben werden. Ökotoxikologisch begründete Qualitätskriterien für Stoffe mit hormoneller Aktivität in Bächen, Flüssen und Seen, die Schweiz- oder sogar EU-weit gesetzlich verankert wären, fehlen allerdings immer noch.

Die Forschungsarbeiten am Oekotoxzentrum zielen daher auch auf eine Standardisierung und Zertifizierung der Biotests. Sie sollten später von privaten oder kantonalen Laboratorien routinemässig angewendet werden können und vergleichbare Resultate liefern. Das dient dem Monitoring der Belastungssituation und hilft, die Prioritäten für vorsorgliche Massnahmen richtig zu setzen.

Nährstoffe steuern Biodiversität

Dank des Ausbaus von Kläranlagen und des Verbots von Phosphat in Waschmitteln ist die Überdüngung der Schweizer Fliessgewässer und Seen stark zurückgegangen. Eawag-Wissenschafter konnten in den letzten Jahren aufzeigen, wie sich damit die Artenzusammensetzung in einzelnen Seen wieder einem naturnahen Zustand angenähert hat. Nun verlangen allerdings Fischereikreise, dass man die Phosphorelimination reduzieren solle. Ihre Hoffnung: Mehr Phosphor im See soll die Fische grösser werden lassen. Die genetischen Analysen von Wasserflöhen – sie zählen zu den wichtigsten Fischnährtieren – hat nun gezeigt, wie die Zeit der Überdüngung in den 1970er und 1980er-Jahren die Einwanderung von bisher fremden Arten begünstigt hat und wie diese Arten mit den ursprünglichen Arten verschmolzen sind. Das ist ein Prozess, der sich nicht oder nur im Zeitraum von Jahrtausenden umkehren lässt, nicht nur bei den Fischnährtieren, sondern auch bei den Fischen selbst, wie die Eawag bei den einheimischen Felchen nachgewiesen hat. Die Forscherinnen und Forscher warnen daher eindringlich vor solchen Experimenten. Fischarten und andere Wasserorganismen, die sich seit der letzten Eiszeit in den einzigartigen und vor allem im alpinen Raum sehr nährstoffarmen Schweizer Seen – und nur hier – entwickelt haben, verdienen einen hohen Schutzgrad. Nährstoffreiche Seen mit grösserer Produktivität für die Fischerei gibt es in der Schweiz immer noch genügend. 

Ausreichende Restwassermengen, eine Überwachung der Belastung durch hormonaktive Substanzen und kein Stopp der Bemühungen zur Nährstoffelimination sind drei Beispiele, welche Ansprüche die Gewässer für ihr Funktionieren stellen. Direktorin Prof. Janet Hering bringt das Engagement der Eawag auf dem Punkt: «Mit unserer Forschung erarbeiten wir Grundlagen, die in der Praxis einen nachhaltigen Umgang mit der Ressource Wasser fördern – einen Umgang, der sowohl die Bedürfnisse der Gesellschaft abdeckt als auch die Ökosystemfunktionen der Gewässer sicherstellt.»