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Bakterien können kollektives Gedächtnis entwickeln

7. März 2016 | Andri Bryner

Einzelne Bakterienzellen vergessen sehr schnell. Aber Bakteriengruppen können ein kollektives Gedächtnis bilden, das ihnen helfen kann, besser mit Stress umzugehen. Das weist eine in der Zeitschrift PNAS veröffentlichte Studie der Eawag und der ETH Zürich erstmals experimentell nach.

Werden Bakterien durch erhöhte Salzkonzentrationen gestresst, überleben sie einen zweiten Salzschock besser als ohne diese «Vorwarnung». Doch dieses Training der Einzeller hält nicht lange an. Schon nach einer halben Stunde ist die Überlebensrate nicht mehr von der Vorgeschichte abhängig. Jetzt berichten die zwei Mikrobiologen Roland Mathis und Martin Ackermann vom Wasserforschungsinstitut Eawag und der ETH Zürich von einer neuen Entdeckung, die sie mit Caulobacter crescentus, einem im Salz- und Süsswasser verbreiteten Bakterium, unter dem Mikroskop gemacht haben.

Werden nicht die einzelnen Zellen, sondern eine ganze Bakteriengruppe beobachtet, scheinen diese Bakterien eine Art kollektives Gedächtnis zu entwickeln. Die Überlebensraten in Populationen, die in einer ersten Stressphase vorgewarnt wurden, sind bei erneuten Belastungen auch nach zwei Stunden höher als in Vergleichspopulationen. Als Ursache für dieses Phänomen haben die Forscher mit Hilfe eines Computermodels ein komplexes Zusammenspiel von zwei Faktoren identifiziert. Zum einen führt der Salzstress zu einer Synchronisation und Verlangsamung der Zellteilungszyklen. Zum anderen hängt die Überlebenschance davon ab, in welchem Stadium der Zellteilung sich das einzelne Bakterium befindet, wenn die zweite Belastung eintrifft. Durch die Regulierung der Zellteilungszyklen ändert sich die Anfälligkeit der Population über die Zeit. Vorgewarnte Populationen können zukünftige Belastungen besser überleben, können aber unter anderen Umständen sogar empfindlicher sein als ihre ungewarnten Artgenossen.

«Wenn wir dieses kollektiven Effekte verstehen, kann das helfen, Bakterienpopulation besser zu kontrollieren», sagt Martin Ackermann. Bedeutung hat diese Schussfolgerung etwa für das Verständnis, wie Krankheitserreger sich gegen Antibiotika wehren, oder wie Bakterienkulturen in industriellen Prozessen oder Kläranlagen auch unter stark variierenden Bedingungen leistungsfähig bleiben können. Denn Bakterien spielen in fast allen bio- und geochemischen Prozessen auf der Erde eine Schlüsselrolle. Je nach Vorgang sind sie aus Sicht der Menschen nützlich - zum Beispiel wenn sie Schadstoffe abbauen und Nährstoffe in Energie umwandeln - oder schädlich, vor allem wenn sie für Krankheiten verantwortlich sind. Für die Forscher ist noch eine weitere Erkenntnis wichtig: «Wer das Verhalten und das Schicksal von Bakterienpopulationen verstehen will, muss manchmal jede einzelne Zelle analysieren», sagt Mathis.

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Versuchsanordnung mit den Bakterien Caulobacter crescentus in mikrofabrizierten Kammern. Jede Kammer besteht aus 8 Kanälen, und in jedem Kanal wächst eine Bakterienpopulation. Die Bakterien sind mit einem Haftorganell am Boden der Kammer befestigt. Wenn sich die Bakterien teilen dann bleibt nur eine der bei der Teilung hervorgehenden Zellen im Kanal, die andere wird ausgeschwemmt. So lassen sich bei der Beobachtung unter einem automatischen Mikroskop Zellzyklus und Überlebenswahrscheinlichkeit der Bakterien rekonstruieren.
(Grafik: Stephanie Stutz)

Roland Mathis lädt eine Population von Bakterienzellen mit Hilfe einer Pipette in die einzelnen Kanäle des Mikrochips.
(Bild: Peter Penicka, Eawag)

Originalartikel

Response of single bacterial cells to stress gives rise to complex history dependence at the population level. Roland Mathis, Martin Ackermann; PNAS, online, March 7th 2016, http://doi.org/10.1073/pnas.1511509113

http://www.pnas.org/content/early/2016/03/08/1511509113