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Politiker leiden unter verzerrter Wahrnehmung

17. August 2016 | Andres Jordi

Politische Akteure neigen dazu, ihre Kontrahenten negativer und einflussreicher wahrzunehmen, als diese tatsächlich sind. Das erschwert Entscheidungsprozesse und das Erarbeiten tragfähiger Kompromisse. Dieses Phänomen konnten Politikwissenschaftler der Eawag sogar in der Konkordanz-Demokratie der Schweiz nachweisen. Von Andres Jordi

Politikerinnen und Politiker tendieren dazu, ihre Kontrahenten negativer wahrzunehmen, als diese tatsächlich sind. So empfinden sie die Unterschiede zwischen ihren eigenen politischen Positionen und jenen ihrer Gegner als grösser, als sich diese objektiv darstellen. Überdies glauben sie, dass ihre Gegenspieler mehr Macht besitzen, als diese in Tat und Wahrheit haben. Politikwissenschaftler nennen dieses Phänomen «Devil Shift». Dem liegt zugrunde, dass es für Menschen offenbar kognitiv schwierig ist, von Gegnern ein positives Bild zu haben. Man hat das Bedürfnis sich abzugrenzen. Zudem bleiben Niederlagen meist stärker in Erinnerung als Siege und kommen in einer Demokratie für viele Politiker auch häufiger vor. Man spricht dem vermeintlich erfolgreicheren Gegner daher einen grossen Einfluss zu. «Misstrauen und Konflikte zwischen politischen Akteuren basieren deshalb auch auf soziopsychologischen Mechanismen und nicht nur auf wirklichen inhaltlichen Differenzen», sagt Manuel Fischer von der Abteilung Umweltsozialwissenschaften der Eawag.

Der Wahrnehmungsteufel in der Schweizer Politik

Soweit die Theorie. Fischer, seine Forscherkollegin Karin Ingold und Wissenschaftler der Universität Genf wollten wissen, ob das Devil-Shift-Phänomen auch in der politischen Realität eine Rolle spielt. Im Rahmen eines Projekts des Schweizerischen Nationalfonds analysierten sie verschiedene Entscheidungsprozesse in der eidgenössischen Politik. Dazu nahmen sie neun der wichtigsten Vorlagen der Jahre 2001 bis 2006 unter die Lupe: von der Änderung des Kernenergiegesetzes über die 11. AHV-Revision und die Erweiterung der Personenfreizügigkeit bis zum bilateralen Abkommen zu Schengen/Dublin. Die Politikwissenschaftler führten mehr als 200 Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Verwaltung, von Parteien, Interessengruppen und der Wissenschaft, die in die jeweiligen politischen Prozesse involviert waren. Sie erfassten dabei die subjektiven Einschätzungen dieser Akteure zum Konflikt mit ihren politischen Gegnern und zu deren Einfluss. Die Resultate verglichen sie mit einer objektiven Beurteilung, die auf den faktischen inhaltlichen Differenzen und auf der durchschnittlichen Einschätzung aller Akteure beruhte.

Tatsächlich konnten die Forschenden nachweisen, dass sich der Wahrnehmungsteufel auch in der Schweizer Politik umtreibt. So empfanden die politischen Akteure oft, dass die Positionen ihrer Kontrahenten stärker von den eigenen Überzeugungen und Werten abwichen, als es diese in Wirklichkeit taten (Abb. 2). «Parteien, Interessengruppen und einflussreiche Akteure sind wesentlich mehr von der verzerrten Wahrnehmung betroffen als die Verwaltung und die Wissenschaft», erläutert Fischer. Er führt dies darauf zurück, dass Erstere in einem stärkeren Wettstreit stehen: Parteien wollen ihre Positionen im Parlament durchsetzen, fühlen sich ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber verpflichtet und hängen von deren Gunst ab. Interessengruppen müssen die Anliegen ihrer Mitglieder vertreten, kämpfen um finanzielle Unterstützung und schnell um ihr Überleben. Führungspersonen und Leistungsträger wiederum exponieren sich in der Öffentlichkeit und sind daher das Hauptziel oppositioneller Kritik.

Der Studie zufolge war der Devil Shift bei Vorlagen mit sozioökonomischer Stossrichtung besonders ausgeprägt. «Politische Dispute verlaufen bei solchen Themen meist nach dem Rechts-Links-Schema», sagt Fischer. Es geht um fest verankerte, über Jahrzehnte kultivierte Grundüberzeugungen von Gruppierungen, die sich deutlich voneinander abgrenzen wollen. Das fördert die subjektive Wahrnehmung, dass sich die Ansichten des politischen Gegners fundamental von den eigenen unterscheiden. «Bei anderen Themen ist die Abgrenzung zwischen den Koalitionen weniger scharf und weniger gut etabliert», so Fischer. Auch seien die materiellen Interessen der Akteure meist weniger direkt betroffen.

Der zweite Aspekt des Devil Shift, dass politische Akteure ihren Opponenten übermässigen Einfluss zuschreiben, zeigt sich in der Schweizer Politik höchstens schwach. Teilweise tendieren die Akteure sogar eher dazu, ihre Gegner als weniger einflussreich einzustufen, als diese effektiv sind (Abb. 2).

Verwaltungsakteure als Mediatoren

Was bedeutet die verschobene Wahrnehmung für den politischen Alltag? «Der Devil Shift fördert die Polarisierung, die Uneinigkeit, aber auch das Misstrauen zwischen den politischen Gegnern», so Fischer. Darunter leide die Zusammenarbeit der verschiedenen Koalitionen, die gerade bei konsensorientierten Regierungsformen wie dem schweizerischen System wichtig sei. «Effiziente Entscheidungsprozesse werden erschwert und austarierte, tragbare Kompromisse sind schwieriger zu erreichen», sagt der Politikwissenschaftler. «Das eidgenössische Politsystem ist in den letzten Jahren konfliktreicher geworden.»

Wie lassen sich die politischen Gräben überbrücken? Laut den Wissenschaftlern braucht es Akteure, welche die klar abgesteckten Koalitionsgrenzen von Parteien und Interessengruppen durchbrechen, um mit ihren politischen Kontrahenten nach Lösungen zu suchen. Auch die parteiübergreifende Zusammenarbeit, etwa in Kommissionen, wirkt verbindend. Eine besonders wichtige Rolle spielen den Forschenden zufolge die Akteure aus der Verwaltung. Sie sind weniger vom Devil Shift betroffen, werden von den Beteiligten also realistischer wahrgenommen. Zudem sind sie sich bei ihrer Arbeit gewohnt, mit unterschiedlichen politischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten und verschiedene Interessen einzubeziehen. Sie vertreten in der Regel auch moderatere Positionen als Politiker oder Lobbyisten. «Damit bieten sich die Verwaltungsakteure als neutrale und glaubwürdige Vermittler zwischen unterschiedlichen Lagern an», sagt Fischer.

Die Forschenden gehen davon aus, dass sich der Devil Shift nicht auf die Schweiz beschränkt. Im Gegenteil: Wenn das Phänomen sogar beim Musterschüler in Sachen Konsensdemokratie auftritt, werden Länder mit einem weniger auf Kompromisse ausgelegten Regierungssystem wesentlich stärker davon betroffen sein.