«Der Weg stimmt, die Geschwindigkeit noch nicht»
Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Auch die Schweiz hat sich zu den formulierten 17 Zielen bekannt. Warum wir ein «Entwicklungsland» sind, welche Herausforderungen wir meistern müssen und welche Rolle der Forschung dabei zukommt, erzählt Daniel Dubas, Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030.
Beim Begriff «Entwicklungsziele» denkt man unweigerlich an «Entwicklungsländer». Warum sind die Ziele für nachhaltige Entwicklung für ein vermeintlich fortschrittliches Land wie die Schweiz wichtig?
Daniel Dubas: In Sachen Nachhaltigkeit sind eigentlich alle Staaten der Welt «Entwicklungsländer». Auch die Schweiz mit ihrem hohen Lebensstandard – oder vielleicht gerade deswegen. Wir haben hierzulande einen hohen Konsum, der Energie- und Ressourcenverbrauch ist enorm und der CO2-Fussabdruck entsprechend gross. Auch das Ausmass des Biodiversitätsverlusts in der Schweiz ist besorgniserregend. Es besteht also in vielen Bereichen Handlungsbedarf. Um die globalen Herausforderungen zu meistern, müssen alle Länder ihre Verantwortung wahrnehmen, müssen wir den Blick sowohl nach innen als auch nach aussen richten und gemeinsam Lösungen finden. Dem trägt die Agenda 2030 mit ihrem innen- und aussenpolitischen Charakter Rechnung.
Die Agenda 2030 wurde von den Vereinten Nationen im Jahr 2015 verabschiedet. Jetzt ist Halbzeit. Wie steht es um die Erreichung der Ziele?
Weltweit zeichneten sich in den ersten Jahren nennenswerte Fortschritte in verschiedenen Bereichen wie Hunger, Gesundheit und Chancengleichheit ab. Die Coronapandemie hat aber weltweit einige der erzielten Fortschritte wieder zunichtegemacht und viele Länder, insbesondere im Globalen Süden, zurückgeworfen. In der Schweiz hatten wir eine bessere Ausgangslage, um dieser Krise entgegenzuwirken. Corona hat die Agenda 2030 zwar auch bei uns etwas ausgebremst, aber wir konnten bei den meisten Zielen Fortschritte erzielen, wie beispielsweise bei der Ressourceneffizienz. Die Schweiz ist insgesamt auf dem richtigen Weg, aber die Geschwindigkeit ist noch zu gering. Wir müssen die Transformation zu nachhaltigen Systemen beschleunigen.
Wo steht die Schweiz bei den Zielen im Bereich Wassernutzung und Gewässerschutz?
Bei der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung stehen wir gut da, bei der Wasserqualität von Gewässern hingegen deutlich weniger. Viele Schweizer Flüsse sind lokal teils stark belastet, vor allem durch Düngerund Pestizidrückstände aus der Landwirtschaft. Um hier eine Verbesserung zu erzielen, müssen wir unter anderem die bestehenden Zielkonflikte zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz überwinden. Ein weiterer Punkt, der oft vergessen wird: Wir sind nicht nur für den Wasserverbrauch und die Gewässerbelastung hierzulande verantwortlich. Der Wasserfussabdruck, den die Schweiz im Ausland hinterlässt, ist immens. Wir importieren beispielsweise Produkte wie Avocados oder Rindfleisch, die unter hohem Wasserverbrauch in oft schon wasserarmen Regionen erzeugt werden. Ein beachtlicher Teil des Wassers, das wir indirekt konsumieren, wird anderswo verbraucht und verschmutzt. Solche sogenannten Spill-Over-Effekte gibt es auch in anderen Bereichen. Drei Viertel unseres ökologischen und zwei Drittel unseres CO2-Fussabdrucks hinterlassen wir im Ausland.
Unser Konsum erschwert es anderen Ländern, nachhaltiger zu werden. Wie nimmt die Schweiz diese Verantwortung im Ausland wahr?
Die Schweiz verfügt über grosses Know-how und Erfahrungen in vielen Bereichen. Sie engagiert sich beispielsweise im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit mit vielen Programmen, um die öffentliche Hand und den Privatsektor in den betroffenen Ländern zu unterstützen. Wichtig ist zudem, dass Schweizer Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit im In- und Ausland über die ganze Wertschöpfungskette verantwortungsvoll ausführen, namentlich was die Arbeitsbedingungen, die Menschenrechte und die Umwelt anbelangt.
Ist es überhaupt möglich, nachhaltige Entwicklung zu messen?
Messbarkeit ist ein wichtiges und sicher nicht immer einfaches Thema. Grundsätzlich sind die verschiedenen Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung messbar. Die UNO hat für alle Ziele zahlreiche Indikatoren definiert. Die Schweiz ist sich der grossen Bedeutung von Daten und Statistiken sehr bewusst. So hat sie 2021 mit der UNO das UN World Data Forum in Bern organisiert, um die Datenerhebung und -analyse im Zusammenhang mit der Agenda 2030 global zu verbessern. In der Schweiz gibt es seit vielen Jahren das Indikatorensystem MONET 2030, mit dem das Bundesamt für Statistik die Fortschritte in der nachhaltigen Entwicklung ausweist, sowie das Indikatorensystem Cercle Indicateurs für Kantone und Städte.
Es ist dem Engagement der Schweizer Forschenden zu verdanken, dass «Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen» als eigenständiges SDG formuliert wurde. Im Bild: Die Autarky-Handwaschstation der Eawag beim Feldtest in Südafrika
(Foto: Autarky, Eawag).
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Erreichung der Ziele bis 2030?
Auf globaler Ebene gilt es, nach dem Corona-Dämpfer wieder eine neue Dynamik für die Umsetzung der Agenda 2030 zu finden. Beim «SDG Summit» der UNO diesen September wird es darum gehen, das Commitment aller Länder zu bekräftigen und die notwendigen Transformationen zu ermöglichen. Fast alle Staaten haben schon einen oder mehrere Länderberichte zur Umsetzung der Agenda 2030 verfasst und Fortschritte gezeigt. Dennoch werden wir die Ziele bis 2030 global kaum erreichen. Auch Ereignisse wie der Ukraine-Krieg, der sich im Globalen Süden stark auf die Nahrungsmittelversorgung und weltweit auf die Energieversorgung auswirkt, erschweren die Erreichung der Ziele erheblich. Frieden ist eine sehr wichtige Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung.
Und wie sind die Aussichten in der Schweiz?
Die grösste Herausforderung für die Schweiz sehe ich darin, die unterschiedlichen Interessen der Akteure zu vereinen und ein koordinierteres Vorgehen von Politik und Verwaltung auf allen Staatsebenen sowie in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Gesellschaft und Forschung zu etablieren. Alle Sektoren müssen sich fragen, was sie zur Agenda 2030 beitragen können. Wir müssen die Sache noch ambitiöser und systematischer angehen und nicht nur als politischen, sondern als gesellschaftlichen Prozess themen- und parteiübergreifend vorantreiben. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ökologische Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität müssen gleichermassen berücksichtigt werden.
Sie haben die Zielkonflikte zwischen Umweltschutz und Wirtschaftsleistung erwähnt. Massnahmen für einen nachhaltigeren Umgang mit natürlichen Ressourcen können doch aber auch eine Chance für die Wirtschaft sein.
Auf jeden Fall. Das zeigt das Beispiel der Kreislaufwirtschaft sehr schön: Massnahmen wie eine verlängerte Produktlebensdauer oder die Rückgewinnung von Wertstoffen, wie etwa Phosphor aus Klärschlamm, schonen nicht nur ökologische, sondern auch finanzielle Ressourcen. Davon profitieren Umwelt und Unternehmen – und letztlich die Gesellschaft.
Trotzdem dominieren in der politischen Diskussion die Zielkonflikte. Warum fällt es so schwer, die Synergiepotenziale zu nutzen?
Um Synergien zwischen Wirtschaft und Umweltschutz zu nutzen, braucht es eine ganzheitliche, systemische Betrachtung. Und die wird schnell sehr kompliziert. Das zeigt sich am Beispiel der nachhaltigen Ernährungssysteme, die der Bundesrat in seinem Aktionsplan zur Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 beschreibt. Ein nachhaltiges Ernährungssystem heisst, gesunde und ausgewogene Ernährung unter fairen Bedingungen und mit möglichst wenig Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen zu produzieren. Dabei soll der Boden geschont, die Biodiversität gefördert und ausserdem noch Food Waste reduziert werden. Um all diesen Aspekten gerecht zu werden, muss man verstehen, wie sie miteinander zusammenhängen und zusammenspielen. Es braucht ein Systemverständnis, um die Probleme zu lösen und die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Welche Rolle kommt der Forschung dabei zu?
Eine enorm wichtige. Bereits bei den Verhandlungen zur Agenda 2030 haben sich neben dem Bund auch Schweizer Forschende stark eingebracht. Es ist beispielsweise wesentlich auf ihr Engagement zurückzuführen, dass «Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen» überhaupt als eigenständiges Ziel in der Agenda formuliert wurde. Alle Schweizer Forschungsinstitutionen haben die Agenda 2030 als Richtschnur in ihre Programme aufgenommen. Die grösste Aufgabe der Wissenschaft sehe ich darin, das vorhin erwähnte Systemverständnis nicht nur zu erarbeiten, sondern auch zu vermitteln und praxistaugliche Lösungspfade aufzuzeigen. Es ist sehr wichtig, dass ein Dialog zwischen Forschenden und den Akteuren aus Politik, Verwaltung, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit stattfindet. Dafür muss das sogenannte Science-Policy Interface gestärkt werden, also die Schnittstellen zwischen der Wissenschaft und allen anderen Sektoren. Nur so können wissenschaftliche Erkenntnisse in Handlungen münden und eine nachhaltige Entwicklung bewirken.
Zur Person
Daniel Dubas hat an der Universität Lausanne Politikwissenschaften und Stadtentwicklung studiert. Er ist Leiter der Sektion Nachhaltige Entwicklung im Bundesamt für Raumentwicklung ARE und seit 2019 Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030. Zudem ist er seit 2022 Präsident des Europäischen Netzwerks für nachhaltige Entwicklung (ESDN).
Erstellt von Isabel Plana für das Infotag-Magazin 2023