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Renaturierung aufgestauter Flüsse durch künstliche Hochwasser
29. März 2022 |
Naturgemäss sind die Wasserstände von Flüssen und Bächen variabel und schwanken entsprechend zwischen trockeneren und feuchteren Perioden. Die Schneeschmelze im Frühjahr sowie der Zeitpunkt und der Ort von Niederschlagsereignissen sind häufig für diese Schwankungen verantwortlich, insbesondere in alpinen Gebieten. Sedimente und adsorbierte Nährstoffe werden vom fliessenden Wasser mobilisiert und durch die Flusstäler transportiert. Dies wiederum trägt zur Gestaltung des Flusses, seiner tiefen und seichten Stellen und der Verbindung mit Flussauen bei. Natürliche Flusssysteme besitzen eine gesunde Ufervegetation und Quellen organischer Stoffe, die Teil des Nahrungsnetzes sind (Robinson, C.T. et al., Freshwater biology, 2002) und Wasserinsekten, Fische und andere Organismen ernähren. Hydrologie, Geomorphologie und Ökologie natürlicher Flüsse stehen im Einklang. Talsperren ändern all dies.
Talsperren können den natürlichen Lauf eines Flusses verändern
Weltweit gibt es mehr als 55’000 grosse Talsperren, die zum Nutzen der Gesellschaft eingesetzt werden, sei es für die Trinkwasserversorgung, die Bewässerung, den Hochwasserschutz oder die Stromerzeugung aus Wasserkraft. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Talsperren den natürlichen Flusslauf eines Flusses drastisch verändern können, insbesondere seine Variabilität sowie das Ausmass und den Zeitpunkt von Überschwemmungen. Dies wird als «Flussregulierung» bezeichnet. Die hinter den Staumauern gebildeten Stauseen fangen den grössten Teil der ankommenden Sedimente ab, wodurch der Fluss und seine Ökosysteme flussabwärts ausgezehrt werden. Flussläufe können sich verengen oder tiefer einschneiden. Diese Veränderungen beeinträchtigen die Ufervegetation, verschlechtern den aquatischen Lebensraum und können zum Zusammenbruch ganzer Nahrungsnetze oder sogar Ökosysteme führen. Heutzutage ist es allerdings möglich, mit einem modernen Talsperrenmanagement künstliche Hochwasser (Robinson, C.T et al. Freshwater Science, 2018) zu erzeugen. Das kann einige Elemente der natürlichen Abflussvariabilität in diese beeinträchtigten Einzugsgebiete zurückbringen.
Spöl als Fallstudie
Über den ökologischen Nutzen dieser Hochwasser ist wenig bekannt, da sie vielerorts nicht regelmässig angewendet werden. In einer kürzlich in der Fachzeitschrift «Journal of Environmental Management» (Consoli, G. et al., 2022) veröffentlichten Studie haben wir das Einzugsgebiet des Flusses Spöl als Fallstudie verwendet, um die Auswirkungen künstlichen Hochwassers oberhalb und unterhalb eines frei fliessenden Nebenflusses zu vergleichen. Die Ergebnisse sollen auf die Wiederherstellung anderer bewirtschafteter Flüsse übertragen und angewendet werden, auch im Hinblick auf die Rolle natürlicher Nebenflüsse.
Das Einzugsgebiet des Spöl entspringt in den Zentralalpen und ist Teil des Donaueinzugsgebiets (Abbildung 1). Zwei grosse Talsperren (Punt da Gall und Ova Spin) wurden zwischen 1960 und 1970 zur Stromerzeugung gebaut und regulieren den Abfluss des Spöls. Der frei fliessende Nebenfluss «Ova da Cluozza» mündet auf halber Strecke zwischen dem Staudamm Ova Spin und der Einmündung in den Inn bei Zernez in den Spöl. Die Wasserstände des Ova da Cluozza schwanken je nach Jahreszeit erheblich, einschliesslich niedriger Wasserstände im Winter und periodischer Überschwemmungen durch Regenfälle oder Schneeschmelze, die an den Spöl vor dem Talsperrenbau erinnern.
Abbildung 1. Lage des Untersuchungsgebiets sowie der Talsperren «Punt da Gall» und «Ova Spin». Die Punkte A-D zeigen die Lage der Probenahmestellen vor, während und nach jedem Hochwasser. Die Punkte A und B befinden sich unterhalb der Einmündung des Nebenflusses (Ova da Cluozza); Die Punkte C und D befinden sich oberhalb. Standort D und Standort A markieren die Grenzen der Drohnenflüge.
(Grafik: Elsevier /
doi.org/10.1016/j.jenvman.2021.114122)
Künstliche Hochwasser, d. h. kontrollierte Abflüsse von Wasser aus den beiden Talsperren, wurden im Jahr 2000 eingeführt und treten ein bis zwei Mal pro Jahr auf. Wir untersuchten den Spöl flussaufwärts und flussabwärts der Einmündung des Nebenflusses «Ova da Cluozza» im Anschluss an künstliche Hochwasser am 4. September 2018 und am 19. Juli 2019. Die Idee war, die Auswirkungen zwischen einem Flussabschnitt mit stabilen Bedingungen (oberhalb des Nebenflusses) und einem dynamischeren, durch periodische natürliche Hochwasser beeinflussten Abschnitt (unterhalb des Nebenflusses) zu vergleichen. Jedes Hochwasser dauerte acht Stunden, mit einem Spitzendurchfluss von 25 Kubikmetern pro Sekunde für etwa zwei Stunden. Wir haben vor, während und nach den Flutungen verschiedene Aspekte der Wasserqualität, der Sedimente im Flussbett, der organischen Substanz und der Wasserinsekten (Makroinvertebraten) beprobt. Ausserdem führten wir Drohnenuntersuchungen des Flusses durch und nahmen hochauflösende Bilder auf, anhand derer wir etwaige Veränderungen der Flussmorphologie beurteilen konnten (Abbildung 2).
Abbildung 2. Luftbild des Flusses Spöl an der Einmündung des Nebenflusses «Ova da Cluozza» am 19. Juli 2019. Man sieht Geomorphologen in orangefarbenen Jacken, die eine Untersuchung zum Thema «Sedimenttransport» durchführen.
(Foto: Schweizerischer Nationalpark)
Künstliche Hochwasser verursachen Störungen im System
Mit dem Anstieg der Durchflussmenge nahm die Trübung des Flusses sofort zu. Das Wasser war so trüb, dass es die Messgrenzen unserer Feldinstrumente überschritt (Abbildung 3). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die künstlichen Hochwasser Sedimente sowohl im Stausee als auch im Flussbett mobilisiert haben. Die mit den Sedimenten verbundenen Gesamtphosphor- und Gesamtstickstoffwerte waren ebenfalls erhöht. Gleichzeitig zeigten unsere Probenahmen, dass die Menge des transportierten organischen Materials und die Anzahl der Insekten und anderer Makroinvertebraten, die mit der Strömung mitgeführt wurden, deutlich erhöht waren.
Abbildung 3. Stark getrübtes Wasser während des künstlichen Hochwassers am Standort D am 4. September 2018.
(Foto: Gabriele Consoli, Eawag)
Nach dem Hochwasser wurden flussabwärts des Nebenflusses (Standorte A und B) keine signifikanten Veränderungen bei der Anzahl (Dichte) und Vielfalt (Taxa-Reichtum) der Makroinvertebraten festgestellt. Oberhalb der Einmündung (Standorte C und D) wurde jedoch ein signifikanter Rückgang der Dichte und des Taxa-Reichtums festgestellt, der sich dann nach etwa vier Wochen wieder erholte. Dieses Ergebnis bestätigte unsere Erwartung, dass die Hochwasser oberhalb des Nebenflusses grössere Störungen im System verursacht haben. Beide Hochwasser spülten den Fluss von Algen und organischem Material im Flussbett frei, wodurch sich die Werte an den Standorten flussaufwärts und flussabwärts verringerten.
Unsere Drohnenaufnahmen haben gezeigt, dass sich die Morphologie des Flusses nach den künstlichen Hochwassern hauptsächlich unterhalb des Nebenarms verändert hat (Abbildung 4). Das Gerinne oberhalb des Zuflusses ist schmal und zeigt Anzeichen von Sedimentverarmung mit bewachsenen Sedimentablagerungen (Bänke und Inseln), vom Gewässer abgetrennt, wie es für einen regulierten Fluss typisch ist. Der flussabwärts gelegene Abschnitt profitiert vom frei fliessenden Nebenfluss «Ova da Cluozza», der Sedimente und Geröll mit sich führt, was eine viel dynamischere Veränderung der Flussmorphologie als Reaktion auf künstliche Hochwasser ermöglicht.
Abbildung 4. Vorherrschende ökomorphologische Merkmale vor und nach den künstlichen Hochwassern.
(Grafik: Elsevier / doi.org/10.1016/j.jenvman.2021.114122)
Sedimente wurden umverteilt und die Bänke und Inseln im Flussbett waren nach den Hochwassern grösser. Die Hochwasser begünstigten die seitliche Bewegung des Flusses und die Verbesserung der Flussmorphologie. Das Betroffensein der Ufervegetation führte zur Bildung wertvoller Lebensräume in der Flussaue, wie sie normalerweise in Flüssen ohne Stauanlagen zu finden sind.
Künstliche Hochwasser sind unerlässlich für die Verbesserung aufgestauter Flüsse
Die wichtigste Botschaft unserer Forschung ist, dass künstliche Hochwasser für die Verbesserung aufgestauter Flüsse unerlässlich sind, da sie die Abflussvariabilität und physikalische Störungen wiederherstellen. Unregulierte Nebenflüsse tragen dazu bei, die Auswirkungen der Flussregulierung zu verringern und die Vorteile künstlicher Hochwasser zu verstärken. In diesem Zusammenhang sind künstliche Hochwasser wichtig für die Mobilisierung von Sedimenten aus dem Nebenfluss, die sich sonst am Zusammenfluss ansammeln würden. In unserer zukünftigen Forschung wollen wir den idealen Zeitpunkt, das Ausmass und die Häufigkeit dieser Hochwasser ermitteln, um die besten Ergebnisse für die Fliessgewässermorphologie und -ökologie zu erzielen, den gesellschaftlichen Nutzen von Talsperren zu erhalten und gleichzeitig die Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren.
Titelbild: Ein künstliches Hochwasser am Fluss Spöl. (Foto: Gabriele Consoli, Eawag)
Originalpublikation
Finanzierung
Diese Arbeit wurde durch das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation «Horizont 2020» der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Massnahme 765553 unterstützt.
Kooperationen
- ETH Zürich
- Schweizerischer Nationalpark
- Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
- eQcharta GmbH
- University of Leeds, UK