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Wie viel Wasser bleibt der Natur? – Die Suche nach der angemessenen Restwassermenge

2. Juli 2025 | Beate Kittl, WSL

In vielen Gewässern bleibt nach der Wasserkraftnutzung nur wenig Wasser für die Natur übrig. Angesichts des Klimawandels und des Biodiversitätsschwunds hat das zunehmend gravierende Folgen. In einem Bericht verschaffen Forschende von WSL, UZH und Eawag, einen interdisziplinären Überblick und zeigen auf, wo noch immer Wissenslücken bestehen.

Vielerorts bleibt vom natürlichen Abfluss in Flüssen und Bächen nur wenig übrig, weil der Mensch Wasser abzweigt, etwa um Energie zu produzieren oder landwirtschaftliche Kulturen zu bewässern. Ein gesetzlich vorgeschriebener Mindestabfluss, das sogenannte Restwasser, soll die biologische Funktion von Bächen und Flüssen sicherstellen. Im Artikel «Restwasser. Die Suche nach der angemessenen Menge» in der Zeitschrift Aqua & Gas beschreiben Forschende, warum die Festlegung von Restwassermengen so komplex ist. «Restwasser bedeutet für die Wasserkraft eine Produktionsminderung und für die Gewässerökologie ein Existenzminimum», erklärt Hydrologe Tobias Wechsler von der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.

Seit 1975 ist in der Bundesverfassung verankert, dass es nach der Wasserkraftgewinnung «angemessene Restwassermengen» geben muss. Doch: «Bei der Verankerung der Restwasserbestimmungen im Gewässerschutzgesetz setzte sich 1991 ein Ansatz durch, der zu niedrigeren Mindestrestwassermengen führte als ökologische Untersuchungen empfahlen», heisst es im Bericht.

Ökologische Bedeutung der Restwassermengen

Dreissig Jahre später zeigt sich, dass es um die Ökologie der Gewässer nicht gut bestellt ist. In der Schweiz sind Wasserlebewesen auf den Roten Listen der bedrohten Arten überrepräsentiert – 65% der Fische und Rundmäuler sowie 47% der Wirbellosen. Anhand dieser Gruppen lässt sich auf einfache Weise der ökologischen Zustand der Gewässer bewerten. Reduzierte Wassermengen verlangsamen beispielsweise die Strömung, verstärken das Algenwachstum und führen zu schwankenden Wassertemperaturen, bei denen spezialisierte Arten nicht leben können.

Betroffen ist der ganze Gewässerraum, etwa an den Ufern: Libellen und Uferpflanzen, aber auch Vögel wie der Flussregenpfeifer. «Flusslebewesen kommen zwar mit Störungen wie Hoch- oder Niedrigwasser zurecht, aber nicht mit kleinsten Restwassermengen oder täglichen, starken Schwankungen, wie sie durch die Wasserkraftnutzung entstehen», sagt die WSL-Ökologin Sabine Fink. Sie untersucht die ökologischen Auswirkungen der Schwall-Sunk-Dynamik, also das rasche Auf und Ab des Wasserpegels als Folge der unregelmässigen Stromerzeugung. Teilstrecken von Flüssen fallen zwischenzeitlich fast trocken, während plötzliche hohe Abflüsse das Bachbett erodieren und tief einkerben. Beides hat Folgen für die Lebewesen der Uferzonen und auf Inseln. «Wir beobachten in alpinen Flüssen, die wir seit 10 Jahren untersuchen, dass sich die Artenzusammensetzung verändert hat und nun den Vorkommen auf klassischen Trockenstandorten entspricht.»

Immer deutlicher zeigt sich, dass auch der Klimawandel berücksichtigt werden muss. Er wirkt sich auf die Abflüsse und direkt auf die Wasserwirtschaft, aber auch auf die Biodiversität in den Fliessgewässern aus. Zugleich ist ein weiterer Ausbau der Stromproduktion aus Wasserkraft politisch gewünscht und geplant. «Die Frage nach der angemessenen Restwassermenge stellt sich angesichts dieser Veränderungen erneut», betont Wechsler. Denn auch die Ansprüche der Natur und anderer Wassernutzungen, z.B. als Kühlwasser oder für die Bewässerung, nehmen zu. «Restwasser und Abflussschwankungen von einzelnen Kraftwerken betreffen das Überleben von Arten und Lebensräumen in ganzen Einzugsgebieten», sagt die Ökologin Fink, «deshalb braucht es Lösungen für gesamte Flusssysteme».

Nutzungsrechte sollten flexibler werden

Was könnten die nächsten Schritte sein? Wechsler sieht diese insbesondere bei der Ausgestaltung von Wasserrechtskonzessionen. Das Nutzungsrecht für Wasser, ein öffentliches Gut, wird heute für eine Dauer von bis zu 80 Jahren verliehen (s. Kasten) und lässt kaum Spielraum für Anpassungen während der laufenden Konzession. «Ein anpassungsfähiges Management könnte helfen, auf Veränderungen wie den Klimawandel oder Schwall-Sunk-Belastungen besser zu reagieren – ohne dass die Betriebe zu viel Planungssicherheit verlieren», sagt Wechslers Kollege von der Eawag, Andri Bryner.

Um die verschiedenen Ansprüche an die Gewässer besser in Einklang zu bringen und eine nachhaltige Wasserwirtschaft möglich zu machen, braucht es zunächst allerdings transparente Datengrundlagen. Im Moment fehlen unabhängige Zahlen zu den tatsächlichen Auswirkungen von Restwasserbestimmungen auf die Stromproduktion. In der Vergangenheit zeigte sich, so die Studie, dass dieser Einfluss überschätzt wurde.

Beschränkter Spielraum bei Wasserkonzessionen

Für Kraftwerke, die vor 1992 konzessioniert wurden, greifen die Restwasserbestimmungen (Art. 31–33 GSchG) erst nach einer allfälligen Neukonzessionierung. Das führt zu äusserst langen Fristen: Da die Konzessionen oft für die maximal zulässige Dauer von 80 Jahren vergeben wurden, vergeht mancherorts zwischen der Aufnahme angemessener Restwassermengen als Ziel in der Verfassung (1975) über das Inkrafttreten des GSchG (1992) bis zum Gesetzesvollzug beinahe ein ganzes Jahrhundert.

Forschungsprogramme

SPEED2ZERO ist eine Joint Initiative von ETH Zürich, WSL, EPFL, Eawag, PSI, Empa und SDSC. Sie zielt darauf ab, die Schweiz nachhaltig in Richtung einer Netto-Null-Gesellschaft zu entwickeln, wobei die Treibhausgasemissionen bis 2030 halbiert werden sollen. Das Projekt befasst sich mit den Bereichen Netto-Null-Emissionen, Energie, Biodiversität und Klimawandel und entwickelt interaktive Visualisierungen, Szenarien, Toolboxes und Aktionspläne, um die nachhaltige Transformation zu ermöglichen. speed2zero.ethz.ch

Wasserbau und Ökologie ist ein interdisziplinäres Forschungsprogramm, das wissenschaftliche Grundlagen rund um das nachhaltige Management unserer Fliessgewässer liefert. Es wird vom Bundesamt für Umwelt und den Forschungsinstitutionen Eawag, Plateforme de Constructions Hydrauliques EPFL, VAW ETH Zürich und WSL getragen. Sein Ziel ist es, wissenschaftliche Grundlagen zu aktuellen Praxisfragen im Fliessgewässermanagement zu erarbeiten und umsetzungsgerecht aufzuarbeiten. rivermanagement.ch

Titelbild: Alpines Wasserkraftwerk an der Blinne im Kanton Wallis: Bei niedrigen Abflüssen wirken sich Temperaturschwankungen schneller auf das Gewässer aus, was insbesondere für kälteliebende Arten problematisch sein kann. (Bild: Jonathan Molina)

Originalpublikation

Wechsler, T.; Schirmer, M.; Bryner, A. (2025) Restwasser. Die Suche nach der angemessenen Menge - Festlegung, Wirkung und Anforderungen, Aqua & Gas, 105(3), 48-53, Institutional Repository