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Mikroverunreinigungen verursachen ökologischen Stress

1. Juni 2017 | Andres Jordi/Andri Bryner

Über das gereinigte Abwasser gelangen Mikroverunreinigungen aus den Kläranlagen in Bäche und Flüsse. Sie scheinen nicht nur einzelne Arten zu beeinträchtigen, sondern die Funktion der Wasserökosysteme, etwa den Laubabbau, zu verändern. Das zeigt ein Forschungsprojekt, das die Eawag im Rahmen des Ausbaus ausgewählter Schweizer ARA zur Reduktion der Belastung lanciert hat. Die technische Aufrüstung der ersten Kläranlagen zeigt bereits Wirkung. 

Sei es in Medikamenten, Kosmetika, Reinigungsmitteln oder Industriechemikalien – in unzähligen Produkten kommen hierzulande täglich über 30’000 chemische Wirkstoffe zum Einsatz. Viele gelangen via Kläranlagen in die Gewässer und können die Lebewesen und das Trinkwasser beeinträchtigen. Um solche Mikroverunreinigungen aus dem Abwasser zu entfernen, rüstet die Schweiz in den kommenden Jahren gezielt rund hundert Kläranlagen mit einer zusätzlichen Reinigungsstufe aus.

Forschende der Eawag und des Oekotoxzentrums Eawag-EPFL begleiten den Ausbau wissenschaftlich. «Wir haben die einmalige Gelegenheit, quasi in Echtzeit zu erforschen, wie sich die Reduktion der Mikroverunreinigungen auf die aquatischen Ökosysteme auswirkt», erklärt Projektleiter Christian Stamm. In einer ersten Phase haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun den chemischen und biologischen Ist-Zustand vor der Aufrüstung der Kläranlagen erfasst. «Wir wollten zudem herausfinden, wie sich die Mikroverunreinigungen aus gereinigtem Abwasser auf die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften und die Funktion von Flussökosystemen auswirkt», erklärt Stamm. «Hier bestehen noch erhebliche Wissenslücken.»

Viele Mikroverunreinigungen im Abwasser

Zwischen 2013 und 2014 nahmen Stamm und sein Team an 24 ARA-Standorten jeweils oberhalb und unterhalb der Abwassereinleitungen regelmässig Wasserproben und bestimmten die auftretenden Stoffe (Abb. 1). Die Messungen belegen, dass mit dem gereinigten Abwasser viele Mikroverunreinigungen in die Flüsse gelangen. «Besonders ausgeprägt war der Anstieg bei Arzneimitteln und Haushaltchemikalien», sagt Stamm. So lagen die Konzentrationen bei den Medikamenten unterhalb der Kläranlagen im Mittel über 30-mal höher als oberhalb (Abb. 2). Eine erste ökotoxikologische Risikoabschätzung deutete darauf hin, dass das Schmerzmittel Diclofenac und die Pestizide Diazinon und Diuron weit verbreitet in biologisch wirksamen Konzentrationen auftreten. Bei weiteren Substanzen ist dies regional der Fall.

Abb. 2: Verhältnis der unterhalb und oberhalb der Kläranlagen gemessenen Konzentrationen verschiedener Substanzen. Werte >1 bedeuten, dass unterhalb höhere Konzentrationen gemessen wurden als oberhalb. Die schwarzen Linien entsprechen dem Median, die gelben Bereiche einer Abweichung von ± 25 Prozent.

Die Lebewesen unterhalb der Kläranlagen zeigten verschiedene Stresssymptome, die auf eine Belastung mit Mikroverunreinigungen hindeuten. So waren bei Bachforellen Gene aktiviert, die bei der zellulären Entgiftung eine Rolle spielen. Bei den Bachflohkrebs-Populationen stellten die Forschenden einen Mangel an jungen Individuen fest, was auf eine beeinträchtigte Fortpflanzung oder eine erhöhte Sterblichkeit von Jungtieren hinweist. Die Vielfalt von wirbellosen Arten, die empfindlich auf Pestizide reagieren, war unterhalb der Abwassereinleitung geringer. Mit dem Abwasser gelangen auch Antibiotika und resistente Bakterien in die Gewässer, was zur Verbreitung entsprechender Resistenzen beitragen kann. 

Anpassungen verschwanden nach dem ARA-Ausbau

Auch Algen und Bakterien, die als Biofilme den Gewässergrund besiedeln und eine wichtige Rolle im Nahrungsnetz spielen, reagieren auf das Abwasser. Die unterhalb der Kläranlagen lebenden Biofilme waren gegenüber Mikroverunreinigungen deutlich toleranter als jene oberhalb. «Je grösser die chemische Belastung, umso grösser war die Toleranz», sagt Stamm. «Das deutet auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Exposition und biologischen Effekten hin.»

Bei den Biofilmen konnten die Forschenden erste Auswirkungen des Kläranlagenausbaus nachweisen. So haben die Algen in der Glatt ihre erhöhte Toleranz gegenüber Mikroverunreinigungen relativ rasch wieder verloren, nachdem die ARA Herisau ihre zusätzliche Reinigungsstufe in Betrieb genommen hatte (Abb. 3). Auch die erhöhte Aktivität der Entgiftungsgene von den unterhalb lebenden Bachforellen verschwand.

Abb. 3: Die Algen unterhalb der ARA Herisau haben ihre Toleranz gegenüber Mikroverunreinigungen nach dem Ausbau wieder verloren: Sie reagieren schon bei tieferen Effektkonzentrationen (EC50) mit einer verminderten Biomassenproduktion. Dagegen zeigen sich bei der nicht aufgerüsteten ARA Hochdorf zwischen den beiden Messjahren keine Unterschiede. Die EC50 gibt an, bei welcher Stoffkonzentration 50 Prozent einer Population in einer Lebensfunktion (in diesem Fall bei der Produktion von Biomasse) beeinträchtigt wird. *statistisch signifikante Resultate

Rinnensystem deckt verschleierte Effekte auf

Die Wirkungen der Mikroverunreinigungen sind im Feld oft nicht direkt messbar, weil sie durch Effekte anderer Abwasserkomponenten überlagert werden. Um die verschiedenen Einflüsse auseinanderzuhalten, führten die Forschenden deshalb zusätzlich Versuche in einem Rinnensystem durch (Abb. 4). Mithilfe dieser Durchflussrinnen konnten sie zum Beispiel nachweisen, dass Mikroverunreinigungen den Abbau von organischem Material hemmen, während die Zufuhr von Nährstoffen diesen fördert. «Das stützt unsere Befunde aus dem Feld, bei denen die Abbauraten bei Laubblättern je nach Nährstoffsituation unterhalb der Kläranlagen um rund zwei Drittel tiefer lagen als oberhalb», sagt Stamm. Die statistische Auswertung deutet darauf hin, dass unter anderem Insektizide die laubabbauenden Bachflohkrebse dezimieren.

Abb. 4: Mit einem Rinnensystem bestehend aus 16 Durchflussrinnen untersuchten die Forschenden die Wirkungen einzelner Abwasserkomponenten. Foto: Eawag