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Neu entdeckt und schon gefährdet

8. September 2016 | Andres Jordi

Biologen der Eawag haben eine neue Bachflohkrebs-Art entdeckt, die nur im Alpenraum vorkommt. Während Gammarus alpinus in den meisten Bergseen noch frei von Störungen lebt, wird die Art im Bodensee von einem invasiven Höckerflohkrebs verdrängt. Von Andres Jordi

Eine neue Pflanzen- oder Tierart zu entdecken, dürfte der Traum vieler Biologinnen und Biologen sein. Roman Alther und Florian Altermatt von der Forschungsabteilung Aquatische Ökologie der Eawag stiessen eher zufällig auf eine solche. Eigentlich suchten die beiden Biologen nach einer bekannten und weitverbreiteten Art. Alther erarbeitet für seine Dissertation an der Eawag und der Universität Zürich eine Übersicht über die Verbreitung und Diversität der Flohkrebse in der Schweiz. Die wissenschaftlich als Amphipoda bezeichnete Tierordnung übernimmt in Gewässern wichtige ökologische Funktionen. Flohkrebse bauen organisches Material ab und dienen Fischen als Nahrung. Als Indikatorarten werden sie zudem bei der Beurteilung der Gewässerqualität eingesetzt. «Trotz ihrer Bedeutung weiss man über Amphipoden erstaunlich wenig», sagt Altermatt, der die Doktorarbeit betreut. «Für die Schweiz gibt es bis heute keine abschliessenden Artenlisten und Verbreitungskarten, geschweige denn eine Übersicht über die genetischen, morphologischen und funktionalen Unterschiede der vorkommenden Arten.» Der Wissenschaftler schätzt, dass in der Schweiz zwischen 30 und 40 Amphipoden-Spezies heimisch sind.

Alpine Populationen fallen aus dem Rahmen

Eine der Arten, deren Verbreitung Alther bisher untersucht hat, ist der Seeflohkrebs (Gammarus lacustris). Der Seeflohkrebs ist ein Kosmopolit, der in Asien, Amerika und Europa vorkommt. Alther wollte wissen, wie nah verwandt die Populationen des Alpenraums sind. Er sammelte in Seen in Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz Gammarus-Individuen (Abb. 2). Diese ergänzte er mit Exemplaren aus den Sammlungen diverser naturhistorischer Museen und publizierten genetischen Daten. Im Labor verglich er Gensequenzen dieser Individuen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede und berechnete daraus mit dem Computer einen Stammbaum. «Zu unserer Überraschung bilden die alpinen Populationen einen völlig separaten Verwandtschaftszweig, der sich von den nichtalpinen Populationen von Gammarus lacustris absetzt», erläutert Alther. «Die deutliche genetische Abgrenzung ist ein starkes Indiz dafür, dass die Gammariden des Alpenraums eine eigene Art darstellen.»

Abb. 2: Im Lac des Plagnes in den französischen Savoyen fischt Roman Alther mit dem Kescher nach Kleingetier. Am Ufer sortiert er die Gammriden aus und führt unter dem Binokular eine erste Bestimmung durch. (Fotos: Barbara Weigelt)

Um herauszufinden, ob sich die alpinen Flohkrebse auch im Körperbau von Gammarus lacustris unterscheiden, zogen die Wissenschaftler einen erfahrenen Taxonomen aus Slowenien bei. «Solche Artenspezialisten sind für unsere Forschung unverzichtbar», sagt Altermatt, «aber leider gibt es hierzulande immer weniger davon». Unter Anleitung des slowenischen Experten sezierten die Forscher die rund zwei Zentimeter langen Flohkrebse, verglichen Antennen, Mundwerkzeuge, diverse andere Gliedmassen – und wurden fündig: «Als auffälligstes Unterscheidungsmerkmal besitzt der alpine Gammaride auf einem seiner beiden Greifbeinpaare nur eine Borstengruppe», erklärt Alther. «Bei Gammarus lacustris sind es zwei.»  Die genetischen und morphologischen Unterschiede haben die Biologen bewogen, die alpinen Populationen einer neuen Art zuzuordnen (Abb. 3). Diese tauften sie auf den Namen Gammarus alpinus.

Wer eine neue Tierart wissenschaftlich beschreibt, muss bestimmte Regeln einhalten. So hat die Erstbeschreibung in einer Fachpublikation zu erscheinen, in der die relevanten Merkmale der neuen Art aufgezeigt werden, damit man diese wiedererkennen und von verwandten Arten abgrenzen kann. Alther und Altermatt stellen ihren Alpen-Flohkrebs in der renommierten Zeitschrift «Zoological Journal of the Linnean Society» vor. Die Artbeschreibung muss sich auf ein Individuum beziehen, das als sogenannter Holotypus in einer öffentlichen wissenschaftlichen Sammlung archiviert ist. Im Fall von Gammarus alpinus ist der Holotypus ein Individuum aus dem St. Moritzersee, das im Zoologischen Museum Lausanne aufbewahrt wird. Weitere Belegexemplare befinden sich in der Sammlung der Eawag in Dübendorf. Den Artnamen liessen die Forscher im offiziellen Register zur zoologischen Nomenklatur eintragen.

Vergletscherung fördert die Artbildung

Die Stammbaumanalysen deuten darauf hin, dass die Artbildung von Gammarus alpinus vor etwa sieben Millionen Jahren begann. Vergletscherungen während des anschliessenden Pleistozäns dürften die Artbildung laut den Wissenschaftlern begünstigt haben. Die Eismassen stellten Fortpflanzungsbarrieren dar, welche die alpinen Populationen von den anderen Flohkrebs-Beständen isolierte und den Genaustausch verhinderte. Als das Eis sich maximal ausdehnte, so vermuten die Biologen, zog sich Gammarus alpinus in südlichere Gefilde zurück. Mit dem Rückgang der Gletscher verbreitete er sich von diesem Refugium wieder nordwärts. Das erklärt, wieso die Art heute fast ausschliesslich in Seen vorkommt, die zum Einzugsgebiet des Mittelmeers oder des Schwarzen Meeres gehören, und im vom Rhein entwässerten Gebieten grösstenteils fehlt (Abb. 4).

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich das Verbreitungsgebiet von Gammarus alpinus auf den Alpenraum beschränkt. «Damit tragen die Alpenländer eine besondere Verantwortung beim Schutz dieser endemischen Art», sagt Altermatt. Gewisse Alpenseen sind von einer landwirtschaftlichen Erschliessung betroffen. Damit verbundene Nährstoffeinträge in die Seen wirken sich negativ auf die Flohkrebs-Populationen aus. Auch der Klimawandel könnte dem an kalte Bedingungen angepassten Gammarus alpinus in Zukunft vermehrt zusetzen.

Abb. 3: Die genetischen Daten zeigen, dass sich die evolutiven Wege von Gammarus alpinus und Gammarus lacustris vor 6,7 Millionen Jahren getrennt hatten. Gammarus alpinus hat sich danach in eine nordwestliche und eine südöstliche Gruppe aufgespaltet. Morphologisch lässt sich Gammarus alpinus nur unter dem Binokular bestimmen: Das zweitletzte Glied seines zweiten Greifbeinpaars besitzt im vorderen Bereich nur eine Borstengruppe (rechts oben), bei Gammarus lacustris sind es dagegen zwei (rechts unten). Zeichnungen: Vid Švara

Von invasiven Arten bedroht

Die grösste Bedrohung sieht der Biologe gegenwärtig jedoch in invasiven Arten: «Akut ist die Situation im Bodensee, wo der aus der Region des Schwarzen Meeres eingeschleppte Grosse Höckerflohkrebs (Dikerogammarus villosus) den Gammarus-alpinus-Beständen den Garaus macht.» In den Bergseen sind hingegen noch keine gebietsfremden Spezies aufgetaucht. Unachtsame Touristen, Taucher oder Fischer, die mit ihrer Ausrüstung unliebsame Arten einbringen, stellen aber ein gewisses Risiko dar. Deshalb fordert Altermatt von den Bergregionen mehr Sensibilität für die Problematik. Die alpinen Seen sollten für spezialisierte Arten wie den Gammarus alpinus möglichst ungestörte Refugien bleiben.

Abb. 4: Die Seen, in denen Gammarus alpinus vorkommen, gehören fast ausschliesslich zu den Einzugsgebieten des Mittelmeers oder des Schwarzen Meeres. Der Bodensee und der Vorläufer des Alpenrheins, die heute zum Einzugsgebiet der Nordsee gehören, flossen vor mehr als 450'000 Jahren via Donau ebenfalls ins Schwarze Meer.

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