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«Ohne Biodiversität kann ich mir unser Leben nicht vorstellen»

23. November 2021 | Annette Ryser

Die Forscher Christoph Vorburger und Florian Altermatt sprechen über die Bedeutung und den Zustand der aquatischen Biodiversität in der Schweiz und über das Engagement der Eawag für den Erhalt der natürlichen Vielfalt.

Prof. Christoph Vorburger ist Biologe und leitet am Wasserforschungsinstitut Eawag die Abteilung Aquatische Ökologie. Zudem ist er Titularprofessor am Institut für Integrative Biologie der ETH Zürich.

Prof. Florian Altermatt ist Biologe, Forschungsgruppenleiter an der Eawag, ausserordentlicher Professor für aquatische Ökologie an der Universität Zürich und Präsident des Forums Biodiversität Schweiz der SCNAT.

Was bedeutet für Sie persönlich Biodiversität?

Christoph Vorburger: Für mich ist es das, was ich in der Natur geniesse. Wenn ich an einem Ort bin, der reich an Biodiversität ist, fühle ich mich zu Hause.

Florian Altermatt: Biodiversität ist für mich einer der faszinierendsten Aspekte des Lebens. Die Vielfalt der Arten hat mich dazu gebracht, Biologie zu studieren. Ohne Biodiversität kann ich mir unser Leben nicht vorstellen.

Wie genau definiert man Biodiversität?

Christoph Vorburger: Es gibt verschiedene Formen von Biodiversität. Am greifbarsten ist natürlich die Anzahl der Arten. Innerhalb der Arten gibt es zudem die genetische Diversität, die es braucht, damit auch immer wieder neue Arten entstehen.

Ein Beispiel: Bei einer parasitären Wespe, die Raupen befällt, fand man mit genetischen Methoden heraus, dass das, was auf den ersten Blick wie eine einzige Art aussah, in Wirklichkeit mehrere Arten waren. Jede Art war spezialisiert auf eine andere Raupenart. Individuen einer Art unterscheiden sich teilweise auch darin, mit welchen Symbionten sie zusammenleben, also zum Beispiel den Bakterien in ihrem Darm. Und auf einer höheren Ebene gibt es auch noch die Vielfalt der Lebensgemeinschaften und Ökosysteme. Das alles sind Formen der Biodiversität.

Florian Altermatt: Innerhalb dieser Kategorien gibt es viel, das noch unerforscht ist. Wir wissen etwa nicht, wie gross diese Kategorien sind und wie stark sie sich verändern. Wir wissen nicht einmal genau, wie viele Arten existieren. Wir wissen in der Schweiz nicht, ob es 45’000 oder 60’000 Insektenarten gibt. Bei den Flohkrebsen haben wir in den letzten fünf Jahren ein Drittel der Arten neu für die Schweiz nachgewiesen, vorher war das vor allem bei den im Grundwasser vorkommenden Arten eine Blackbox. Wir fahren teilweise blind durch die Biodiversitätswelt, müssen sie aber gleichzeitig schützen.
 

Florian Altermatt im Gespräch.
(Foto: Eawag, Peter Penicka)

Wodurch wird die Biodiversität bedroht?

Christoph Vorburger: Der wichtigste Grund ist ganz klar der Verlust und die Zerstückelung von Lebensraum. Weitere Gründe sind zum Beispiel Übernutzung, Stickstoff- und Phosphorverschmutzung, Pestizide, der Klimawandel oder invasive Arten.

Florian Altermatt: Oft ist es auch nicht nur einer dieser Faktoren, sondern diese wirken gleichzeitig und verstärken sich gegenseitig.

Christoph Vorburger: Es sind alles menschengemachte Faktoren und sie kommen dort zusammen, wo es die meisten Menschen hat.

Ohne den Menschen würde sich Biodiversität also nicht verändern?

Florian Altermatt: Doch das würde sie, aber viel weniger rasch und weniger stark. Grundsätzlich nimmt die Biodiversität über geologisch lange Zeiträume zu – es gab aber eine Handvoll massive Umweltveränderungen, die jeweils zu einem Massenausstreben führten. Das waren beispielsweise der Einschlag eines Meteoriten oder globale atmosphärische Veränderungen, zum Beispiel als Organismen plötzlich anfingen, Sauerstoff zu produzieren. Und jetzt ist es der Mensch, der eine solche massive Veränderung auslöst.
 

Christoph Vorburger im Gespräch.
(Foto: Eawag, Peter Penicka)

Was bedeutet der Verlust der Biodiversität für den Menschen?

Florian Altermatt: Ganz ohne Biodiversität ist menschliches Leben nicht möglich. Ein gewisser Verlust ist aber vermutlich verkraftbar. Doch wo ist die Grenze? Unsere Ernährung, unsere Gesundheit, unser Wasser, unser Wohlempfinden: All das ist von Biodiversität abhängig. Je biodiverser ein Lebensraum ist, desto besser kann er zum Beispiel Wasser speichern und reinigen.

Christoph Vorburger: Eine grosse biologische Vielfältigkeit schützt Ökosysteme auch vor den Auswirkungen von Umweltveränderungen.

Florian Altermatt: Der Biodiversitätsverlust hat auch negative ökonomische Folgen, was beispielsweise vom World Economic Forum klar hervorgehoben wird: Das Risiko des Biodiversitätsverlusts auf die Wirtschaftsleistung ist eines der grössten identifizierten Risiken. Ein Hauptproblem ist, dass Biodiversität nicht einfach wiederherstellbar ist, wenn sie einmal verloren ist. Klar wird irgendwann wieder neue Biodiversität entstehen, Leben wird weiterbestehen, aber nicht in Zeiträumen, in denen es für den Menschen noch relevant sein wird.

Christoph Vorburger: Für mich hat Biodiversität darüber hinaus auch einen Wert an sich. Haben wir Menschen überhaupt das Recht, sie zu gefährden? Und auch wenn wir uns dieses Recht zugestehen: Wir verlieren im Prinzip zukünftige Gelegenheiten zur Nutzung, wenn wir Arten verlieren, die wir noch gar nicht gekannt haben.

Wie ist der aktuelle Zustand der aquatischen Biodiversität?

Christoph Vorburger: Da sieht es noch schlimmer aus als im terrestrischen Bereich. Das liegt wohl daran, dass hier so starke Lebensraumveränderungen stattgefunden haben. In Europa gibt es fast keinen Fluss mehr, der vollkommen natürlich verläuft. Die Gewässerverschmutzung war auch früher ein sehr grosses Problem. Viele Arten sind verschwunden, weil die Wasserqualität nicht mehr ausreichend war. In Binnengewässern gibt es zudem sehr viele invasive Arten.

Florian Altermatt: Die noch naturnahen Abschnitte der Gewässer sind auch nicht gut miteinander vernetzt. Das macht sie noch anfälliger für Biodiversitätsverluste.

Christoph Vorburger: Die starke Isolation und die starke Strukturierung der Gewässer sind ein Risiko, sie sind aber auch der Grund, wieso Gewässer überhaupt so viel Biodiversität aufbauen konnten. Diese ist aber oft sehr lokal. Ein gutes Beispiel sind die Felchen: Da gibt es Arten, die existieren zum Beispiel nur im Brienzersee. Wenn man diesen Lebensraum zerstört, hat man auch gleich diese Arten verloren.

Tragen denn die Bemühungen des Gewässerschutzes und der Revitalisierungen bereits Früchte?

Christoph Vorburger: Die Wasserqualität hat sich bezüglich Nährstoffen stark verbessert im Vergleich zu den grössten Verschmutzungen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, vor allem in den grossen Gewässern. Die Habitatsvielfalt in den Fliessgewässern verändert sich jedoch nur langsam. Zwar wird derzeit massiv in Revitalisierungen investiert, aber zwei Kilometer Fluss natürlicher zu gestalten, ist bereits ein riesiges Projekt und geht nicht sehr rasch voran. Ich bin überzeugt, die Auswirkungen werden positiv sein. Aber noch ist nicht klar, wann wir das klar werden messen und zeigen können.

Florian Altermatt: Trotz der positiven Massnahmen, die gemacht werden, herrschen die negativen Einflüsse immer noch vor. Beispielsweise besteht immer noch grosser Handlungsbedarf bezüglich Mikroverunreinigungen oder Pestizide. Gerade kleinere Gewässer sind hier stark betroffen. Zudem gibt es auch gegensätzliche Entwicklungen: Man revitalisiert Gewässer, baut aber gleichzeitig Wasserkraftwerke in kleinen Gewässern und schadet damit der Biodiversität. Man schöpft also quasi Wasser aus einem Boot mit einem Leck, flickt aber das Loch nicht wirklich. Der Schutz der Biodiversität muss ursächlich angegangen werden.

Welche Rolle spielt die Eawag?

Florian Altermatt: Die Eawag etabliert Grundlagen über den Zustand und die Veränderung der Biodiversität in Gewässern, analysiert Gefährdungsfaktoren und entwickelt teilweise auch Lösungen, wie man diese angehen kann. Zudem sind wir aktiv in der akademischen Ausbildung sowie in der praxisnahen Weiterbildung. Ein aquatischer Chemiker, der etwa beim Bund oder bei einem Kanton tätig ist, denkt heutzutage über Biodiversität nach, auch dank dem Engagement der Eawag.

Christoph Vorburger: Praktisch alle Abteilungen der Eawag beschäftigen sich mit dem Thema Biodiversität. Nur ein paar Beispiele: Wir erforschen Methoden, um Biodiversität effizienter, schneller und umfassender zu messen. Die Eawag hat das beste existierende Inventar der Fischbiodiversität in der Schweiz erarbeitet. Man entwickelt Modelle, die anhand der Biodiversität Aufschluss geben über die Qualität eines Lebensraums. In den Ingenieurwissenschaften wird darüber nachgedacht, wie man die Siedlungswasserwirtschaft so gestalten kann, dass sie auch einen Beitrag an die Biodiversität leistet. Die Eawag spielt zudem eine wirklich grosse Rolle in der Revitalisierung von Fliessgewässern: Sowohl bei der Begleitung dieser Projekte, als auch bei der Erfolgskontrolle und der Umsetzungskontrolle.

Florian Altermatt: Was an der Eawag zudem vorhanden ist, ist das Bewusstsein, dass viele grosse Herausforderungen im Umweltbereich nicht nur sektoriell angegangen werden können. Dass heute Ingenieure oder Sozialwissenschaftler oder Ökonominnen Biodiversität berücksichtigen, ist nur möglich, wenn man eine interdisziplinäre Herangehensweise hat. Das leben wir an der Eawag. Mit der Forschungsinitiative Blue Green Biodiversity, die wir zusammen mit der WSL ins Leben gerufen haben, vernetzen wir ganz bewusst Ingenieure, Sozial- und Geisteswissenschaftlerinnen, Chemiker und Biologinnen. Ich bin überzeugt, dass dies der Biodiversität zu Gute kommt.

Titelbild: Eawag, Peter Penicka