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Der Jäger folgt der Beute – auch in der Evolution

17. September 2015 | Sibylle Hunziker

Seit die Wanderung der amerikanischen Flussheringe mit Dämmen unterbrochen wurde, begannen sich in den isolierten Seen neue Heringsarten zu bilden – und eine auf Heringsjagd spezialisierte Form von Hechten. Neue Forschungsresultate zu diesen Jägern zeigen, wie Eingriffe in die Umwelt das Wechselspiel zwischen Evolution und Ökologie verändern. Und sie öffnen den Blick für die Formenvielfalt auch in Schweizer Seen.

Hechte leben im seichten Wasser am Ufer und lauern im Schilf auf Beute. So steht es in jedem Schulbuch, und so lautete bisher der Konsens in der Wissenschaft. Doch in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift «Nature Communications» beschreiben Forschende der Eawag und der Yale University nun amerikanische Kettenhechte (Esox niger), die sich auf die Jagd im offenen Wasser spezialisiert und dabei neue Körperformen entwickelt haben. Die Fische haben damit auf Veränderungen in Lebensweise und Grösse von Beutetieren in ihren Seen reagiert – und das in weniger als 300 Jahren.

Der Mensch macht Evolution

Bei der Kolonisation der amerikanischen Ostküste vor 300 Jahren bauten die Siedler vielerorts Dämme, um das Wasser auf ihre Mühlen zu leiten. Dadurch unterbrachen sie an etlichen Stellen die Wanderung der Flussheringe (Alosa pseudoharengus), die vorher überall zum Laichen aus dem Meer in die Süsswasserseen aufgestiegen waren. In einigen dieser isolierten Seen kommen heute keine Flussheringe mehr vor. In anderen aber leben Nachkommen der Fische, die durch die Dämme vom Meer abgeschnitten wurden. Seit sie das ganze Jahr über im gleichen See leben, haben sie sich an die neuen Bedingungen angepasst: Anders als ihre wandernden Verwandten leben sie nur noch im offenen Wasser und haben sich auf Zooplankton als Nahrung spezialisiert. Dadurch sind sie auch kleiner geworden.

Mittlerweile unterscheiden sich die Flussheringe in den isolierten Seen auch genetisch, wie David Post von der Yale University schon vor Jahren nachgewiesen hat. Aufbauend auf diese Forschung hat Jakob Brodersen von der Eawag die grössten Räuber dieser Seen untersucht, die Kettenhechte [Abb. 1]. Bis dahin wusste man, dass Umweltveränderungen Anpassungs- und Evolutionsprozesse auslösen, und dass die Entstehung neuer Arten und Formen ihrerseits die Umweltbedingungen verändern – etwa durch eine veränderte Nutzung des Raums und der Nahrungsressourcen. Aber zu den grossen Jägern an der Spitze des Nahrungsnetzes gab es noch keine Untersuchungen. «Um zu verstehen, was dort passiert, muss man das gesamte Ökosystem anschauen», sagt Brodersen.

Neue Beute, neue Form

Systematische Fänge in insgesamt 12 Seen ergaben, dass überall Kettenhechte in den Uferzonen leben unabhängig davon, ob Flussheringe vorkommen oder nicht und ob deren Bestände isoliert sind oder noch frei zwischen See und Meer wandern können. «Doch nur in den isolierten Seen fanden wir auch Hechtbestände im offenen Wasser», sagt Brodersen. Die Analyse des Mageninhalts dieser Kettenhechte zeigte, dass diese vor allem Flussheringe jagen. Sie unterscheiden sich damit von ihren ufernahen Artgenossen, die es in erster Linie auf Sonnenbarsche abgesehen haben. Weil Flussheringe aber fetter sind als Sonnenbarsche, können ihre Jäger auch besonders viele Fettreserven einlagern.  «Das ist ein Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil, der die neue Lebensweise für die Kettenhechte wohl besonders attraktiv machte», so Brodersen.

Und die Kettenhechte im offenen Wasser haben sich auch im Körperbau an die neue Lebensweise angepasst: Ihr muskulöser, stromlinienförmiger Körper eignet sich für die ausdauernde Jagd von Fischschwärmen, während ihre pfeilförmigen Verwandten am Ufer fürs Lauern im Schilf und das blitzschnelle Zuschnappen eingerichtet sind [Abb. 2].

Dennoch belegen genetische Untersuchungen, dass die Hechte im offenen Wasser keine näheren Verwandten haben als die Uferhechte im gleichen See. «Die Jäger der Flussheringe sind also nicht etwa von woanders eingewandert, sondern haben sich aus und neben den Uferbewohnern im gleichen See entwickelt», sagt der Eawag-Wissenschaftler.

Verschiedene Formen auch in der Schweiz

Die Forschungsresultate zeigen, wie menschliche Eingriffe nicht einfach die Umwelt «umbauen». Vielmehr verändern sie das ganze komplexe Wechselspiel zwischen Ökologie und Evolution auf verschiedenen Ebenen des Nahrungsnetzes bis hin zu den Prädatoren an der Spitze. Die Frage, wie sich die Entstehung neuer Formen von Hechten und ähnlichen Jägern auf die Artenvielfalt in Gewässern auswirkt, steht für Brodersen als nächstes auf dem Programm – diesmal allerdings mit Fischen in Schweizer Seen und Flüssen.

So fand Brodersen auch im Vierwaldstättersee Ufer- und Seehechte, die jenen in Amerika stark glichen. Er sprach mit Berufsfischern und merkte, dass sie ganz selbstverständlich zwischen Uferhechten und Freiwasserhechten unterscheiden. Erstere fressen unter anderem Barsche und Rotaugen, Letztere haben einen kleineren Kopf und jagen Kleinfelchen. «Ähnliche Unterschiede haben Fischer seit Generationen auch bei anderen Fischen beobachtet, etwa bei Forellen, die Bäche und Flüsse sehr unterschiedlich nutzen», sagt Brodersen. Er geht deshalb mit seinen Studierenden oft zuerst zu den Berufsfischern, bevor er sich daran macht, die Ursachen und evolutionären Mechanismen zu erforschen, die zu dieser Formenvielfalt geführt haben.

Abb. 2: Kettenhechte, die in der Uferzone leben, sind pfeilförmig gebaut und ernähren sich von Sonnenbarschen (links). Ihre Verwandten im offenen Wasser sind muskulöser und stromlinienförmiger; sie ernähren sich  vor allem von Flussheringen (rechts).

(Grafik: Patrick Lynch, Yale University)