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«Bei komplexen Problemen können Entscheidungen aus dem Bauch heraus sehr falsch sein»

6. März 2019 | Stephanie Schnydrig

Umweltpolitische Fragen sind vielschichtig und mit unterschiedlichen Zielvorstellungen behaftet. Deswegen bieten sich selten einfache Lösungen an, die allen Beteiligten gefallen. Die Umweltsozialwissenschaftlerin und Biologin Judit Lienert erforscht mit ihrer Forschungsgruppe in der Abteilung Umweltsozialwissenschaften, wie man solche Zielkonflikte am besten angeht.

Judit Lienert, du bist Spezialistin für gute Entscheidungen. Wie entscheide ich mich für ein perfektes Reiseziel diesen Sommer?

In meiner Forschungsgruppe gehen wir Entscheidungsfindungen mit der sogenannten «Multi-Criteria Decision Analysis» an, kurz MCDA oder auf Deutsch «Multikriterielle Entscheidungsanalyse». Diese Methode erlaubt, die optimale Lösung für ein Problem zu finden, für das nicht von vornherein die eine perfekte Lösung existiert.

Im Fall deines Reiseziels würden wir uns zuerst auf deine Bedürfnisse fokussieren und danach abschätzen, wie gut verschiedene Ferienoptionen diese Bedürfnisse erfüllen. Dann eruieren wir, welche Abstriche du am ehesten hinnehmen möchtest. Vielleicht bist du bereit, mehr zu bezahlen aber dafür deine CO2-Bilanz zu verbessern. Anschliessend fasse ich alle deine Bedürfnisse und Abwägungen in einem mathematischen Modell zusammen. Um das gleich einmal durchzuspielen, was ist dir auf einer Reise wichtig?

Etwa mich in der Natur zu bewegen, wenig Geld auszugeben, Umweltfreundlichkeit und etwas Ungewöhnliches zu erleben.

Einverstanden. Dann generieren wir nun mit viel Fantasie möglichst viele Optionen und ermitteln, wie gut sie deine Bedürfnisse deckten. Wie viel kosten Radferien in Skandinavien und ein Trekking in Nepal? Wie hoch ist der CO2-Ausstoss von All-inclusive-Ferien am Mittelmeer und vom Survival-Training im Toggenburg? Nun frage ich dich, wie wichtig dir ein Bedürfnis im Vergleich zu den anderen ist. Wenn du etwa die Kosten nur halb so stark gewichtest wie ein geringer CO2-Ausstoss, landet wohl die Reise ins Toggenburg auf dem ersten Platz. Nun, vielleicht wärst du auch ohne MCDA zu diesem Ergebnis gelangt. Aber oft erleben wir Überraschungen, weil wir unseren Blick für das schärfen, was uns wirklich wichtig ist. Und bei sehr komplexen Entscheidungen, insbesondere wenn viele Menschen involviert sind, können sich Entscheidungen aus dem Bauch heraus sogar als falsch erweisen.

Welche Probleme geht ihr in der Forschungsgruppe mit der Multikriteriellen Entscheidungsanalyse an?

Bisher begleiteten wir vor allem Entscheidungen in der Siedlungswasserwirtschaft, in der man mehrere – oft sich widersprechende – Ziele erreichen möchte, etwa «Tiefe Kosten» und «Umweltverträglichkeit». Nur: Die umweltverträglichste Lösung mag unter Umständen die teuerste sein. Hinzu kommt, dass anders als bei der Auswahl des perfekten Ferienziels sehr viele Menschen involviert sind. Eine sorgfältig durchgeführte MCDA bindet die verschiedenen Akteure in den Entscheidungsprozess mit ein, schafft Transparenz und erlaubt, vernünftige Kompromisslösungen auszuarbeiten. Dieses Vorgehen erhöht die Akzeptanz der später getroffenen Entscheidung in der Politik, den Verbänden und der Bevölkerung.

In ländlichen, dünn besiedelten Gebieten sind zentralisierte Abwassersysteme häufig nicht ausgelastet. Sie werden alt und der Ersatz durch ein neues, zentrales System kann sehr teuer werden. Die Eawag hilft, Alternativen aufzuzeigen, die für die Bevölkerung akzeptierbar sind.
(Foto: Daniel Guggisberg)

Kannst du ein konkretes Beispiel nennen?

In einem Projekt, das vom Kanton Solothurn mitfinanziert wird, untersuchen wir, wie sich in ländlichen und dünn besiedelten Gebieten das häusliche Abwasser künftig bestmöglich entsorgen lässt. Weil an solchen Orten kanalisationsgebundene Abwasserreinigungsanlagen nicht genug ausgelastet werden, sind sie teuer. Dezentrale Abwasseranlagen könnten daher Alternativen zum zentralen System bieten. Unser wissenschaftlicher Mitarbeiter, Philipp Beutler, hat in einer Fallstudie eine sorgfältige MCDA gemacht und dabei Interviews, Online-Befragungen und Workshops durchgeführt. Die Resultate waren für den Grossteil der Gemeindebevölkerung sehr unerwartet: Neben dem Anschluss an die Kanalisation und grosse Kläranlage einer Nachbargemeinde stellten sich auch dezentrale Abwasserreinigungsanlagen als eine gute Option heraus. Welchen Weg die Gemeinde in Zukunft aber tatsächlich gehen wird, entscheidet sie gemeinsam mit dem Kanton und der Bevölkerung selber.

Auch benutzen wir die MCDA-Methode in Westafrika in einem von der EU finanzierten Horizon-2020-Projekt namens FANFAR. Ziel ist, mit lokalen Akteuren, Expertinnen und Experten aus ganz Westafrika, ein gut funktionierendes Vorhersagesystem für Hochwasserereignisse zu entwickeln.

Hochwasser in Lagos, Nigeria: Überschwemmungen sind in Westafrika ein zunehmend ernstes Problem, das sich mit dem Klimawandel verstärken dürfte.
(Foto: peeterv / iStock)

Wie verbreitet ist MCDA ausserhalb der Forschung, also in Umweltbüros, beim Bund oder bei den Kantonen?

Entscheidungsunterstützung mit MCDA ist hierzulande noch wenig etabliert. Allerdings ist die «Kosten-Nutzen-Analyse» weit verbreitet, zum Beispiel in Ingenieurbüros. Das ist im Prinzip eine stark vereinfachte MCDA. Ich denke aber, dass wir mit einem partizipativen MCDA-Vorgehen bessere Ergebnisse erhalten. Erstens sind wichtige Interessensgruppen schon von Anfang an in den Entscheidungsprozess mit eingebunden. Zweitens sind stark vereinfachte Modelle manchmal so simpel, dass dadurch Fehlannahmen eingeführt werden – und die Ergebnisse verfälscht sind.

Eine komplexe Entscheidung ist immer eine einmalige Sache. Insofern ist nicht belegt, ob reale, komplexe Entscheidungen mit MCDAs tatsächlich besser sind. Beteiligte Akteure betonen aber häufig, dass sie dank MCDA besser informiert sind, ihre Bedürfnisse bewusster wahrnehmen und diejenigen der anderen Parteien besser verstehen. Ein starkes Argument für MCDAs ist für mich auch die gewonnene Transparenz bei grösseren umweltpolitischen und gesellschaftlichen Entscheidungen.

Was sind die Herausforderungen für das Gebiet der Entscheidungsanalysen?

Wenn Zielvorstellungen zu simpel erhoben werden, können sich systematische Fehler einschleichen. Wir entwickeln Methoden, um das zu verhindern. Auch möchten wir vermehrt die Öffentlichkeit mithilfe von Online-Umfragen einbeziehen und testen zurzeit verschiedene Erhebungsmöglichkeiten. Unser Doktorand Fridolin Haag hat etwa ein Online-Verfahren zur Erhebung von Zielen in der Siedlungswasserwirtschaft ausgetestet und unsere Post-Doktorandin Alice Aubert tüftelt daran, mithilfe von spielerischen Elementen Online-Umfragen zu verbessern.

Die Forschung zu «Entscheidungsanalysen» entstand in den 60er-Jahren in den USA und wurde vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern angewendet. Psychologinnen und Psychologen haben die Ideen in den 70er-Jahren aufgegriffen, um das Entscheidungsverhalten von Menschen unter die Lupe zu nehmen. Heute kommen diese Theorien in allen erdenklichen Gebieten zum Einsatz, etwa in der Industrie, der Medizin, bei Konsumentscheidungen und Umweltentscheidungen. Denn grundsätzlich spielt es für die Herangehensweise an solche Probleme keine Rolle, ob es sich um Finanz-, Politik oder Umweltentscheidungen handelt, da sie typischerweise alle gross und komplex sind.

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