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Virtueller Fisch statt Tierversuch

18. Juli 2022 | Annette Ryser

Im Rahmen eines neuen nationalen Forschungsprogramms, welches Tierversuche in der Forschung ersetzen will, unterstützt der Nationalfonds ein Projekt der Eawag. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten, die Toxizität von chemischen Substanzen allein aufgrund von Tests mit gezüchteten Zellen und Computermodellen zu bestimmen. Tierversuche könnten damit ersetzt werden.

Das neue nationale Forschungsprogramm «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft» (NFP 79) des Schweizerischen Nationalfonds fördert wissenschaftliche Projekte, die dazu beitragen, Tierversuche in der Schweizer Forschung zu verbessern, zu reduzieren oder zu ersetzen. Anfang Juni wurden aus den eingereichten Projekten 23 ausgewählt, welche mit insgesamt 14,9 Mio CHF unterstützt werden. Darunter befindet sich auch ein gemeinsames Projekt des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Utrecht. Das mit fast einer Million Schweizer Franken dotierte Projekt ist auf vier Jahre angelegt und hat zum Ziel, Tierversuche mit Fischen bei der Zulassung von Chemikalien künftig mit einer Kombination aus In-vitro-Tests und Computermodellen zu ersetzen. Koordiniert wird das Projekt von Kristin Schirmer, Leiterin der Eawag Abteilung Umwelttoxikologie und Titularprofessorin an ETH Zürich und EPFL, sowie von Bernhard Truffer, bis vor kurzem Leiter der Eawag Abteilung Umweltsozialwissenschaften und Professor an der Universität Utrecht.

Eawag-Test mit Fischzellen ersetzt Tierversuche

Die Eawag arbeitet unter der Leitung von Kristin Schirmer schon seit vielen Jahren daran, Tierversuche an Fischen durch In-Vitro-Methoden zu ersetzen. Dabei handelt es sich um Toxizitätstests, die auf Fischzellen beruhen, die im Labor gezüchtet werden. Anhand dieser Zellen kann untersucht werden, wie toxisch bestimmte Chemikalien auf Fische wirken. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, das zum Beispiel darüber entscheidet, ob neue Substanzen für den Markt zugelassen werden dürfen. Ein vom Team um Schirmer entwickelter Test, der auf Kiemenzellen der Regenbogenforelle beruht, wurde im letzten Jahr von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als neueste Leitlinie im Bereich der Umwelttoxikologie freigegeben. «Wir haben deshalb Kiemenzellen gewählt, da es die Kiemen sind, die durch ihre grosse Oberfläche im Fisch als erstes mit einer Chemikalie im Wasser in Kontakt kommen» erklärt Schirmer. «Indem wir also beobachten, wie die Kiemenzellen durch eine Chemikalie geschädigt werden, können wir vorhersagen, wie sich diese Chemikalie auf einen lebenden Fisch auswirken würde». 

Ein an der Eawag entwickelter Test, der auf Kiemenzellen (RTgill-W1) der Regenbogenforelle beruht, wurde von der OECD als neueste Leitlinie im Bereich der Umwelttoxikologie freigegeben. Ein umfassenderes Bild, wie sich Chemikalien auf den Fisch auswirken, erhält man jedoch erst, indem wenn man nebst den Kiemen auch andere wichtige Organe berücksichtigt. Für alle eingezeichneten Organe existieren bereits Zelllinien. Einige von ihnen sollen im Rahmen des NFP-Projektes weiterentwickelt werden. (Grafik: zeichenfabrik)

Der virtuelle Fisch ermöglicht eine umfassende Betrachtung

Ein noch umfassenderes Bild, wie sich Chemikalien auf den Fisch auswirken, erhält man jedoch erst, wenn man nebst den Kiemen auch andere wichtige Organe berücksichtigt. Dieses Ziel verfolgen die Forschenden nun im Rahmen des NFP 79. Dazu arbeiten sie zum Beispiel an Tests, die auf Darm- oder Nervenzellen der Regenbogenforelle basieren. Und auch der Blick auf die molekulare Ebene, also auf Proteine oder RNA-Moleküle, hilft, das Bild zu vervollständigen.

Ksenia Groh, die als Forschungsgruppenleiterin am Projekt beteiligt ist, erklärt: «Unsere Vision ist, dass die Daten aus In-Vitro-Tests an Zellen aller wichtigen Organe in ein einziges Computermodell einfliessen, den virtuellen Fisch.» Dieser soll detaillierte und fundierte Aussagen darüber ermöglichen, wie sich Chemikalien auf Fische auswirken – ganz ohne dabei auf Versuche an lebenden Fischen zurückgreifen zu müssen.

Zusammenarbeit mit Praxispartnern

Ein wichtiger Teil des Projekts ist der Einbezug der chemischen Industrie sowie der Behörden, die zuständig sind für die Zulassung neuer Chemikalien. «Wir wollen den virtuellen Fisch mit ihnen zusammen erarbeiten, um den Prozess von der Entwicklung bis zur Anwendung auf der regulatorischen Ebene – der im Falle des Kiemen-Tests zwölf Jahre gedauert hat – an den effektiven Bedürfnissen auszurichten und somit zu beschleunigen», sagt Groh. Das Know-how, um die Zusammenarbeit und den Austausch mit den Praxispartnern zu gestalten, steuert Bernhard Truffer bei, ein Experte im Bereich technischer Innovationen. Er erklärt: «Ein früher Einbezug der Akteure ist wichtig, damit Anforderungen, die die spätere Implementierung stellt, bereits in der Methodenentwicklung berücksichtigt werden können. Auf diese Weise können Tierversuche in der Praxis schneller ersetzt werden.» Unterstützt wird das Team dabei von Jarno Hoekman, ebenfalls Professor für Innovation an der Universität Utrecht.

Colette vom Berg, die als Forschungsgruppenleiterin am Projekt beteiligt ist, fasst zusammen:

«Die Eawag forscht schon seit geraumer Zeit mit vielen Partnern an der Entwicklung von Tests, welche Versuche an lebenden Fischen überflüssig machen. Mit diesem grossartigen Projekt haben wir die Möglichkeit, verschiedene Ansätze zu bündeln und Lücken zu schliessen.»

Im Rahmen des Projekts sind derzeit eine Postdoc- und zwei PhD-Stellen ausgeschrieben.
 

Titelbild: Angefärbte, gesunde Kiemenzellen von Regenbogenforellen: Zellkerne (blau), Lipide (grün), Aktin (rot). (Foto: Vivian Lu Tan, Eawag)