Die Expertin für den Faktor Mensch
Was macht eine Psychologin am Wasserforschungsinstitut Eawag? Ein Porträt über Nadja Contzen, die weiss, welche Rolle der Mensch für den Erfolg neuer Wassertechnologien spielt und warum Händewaschen nicht selbstverständlich ist.
Fragt man Kinder, was sie später einmal werden wollen, lauten die Antworten meistens Pilot, Tierärztin oder Fussballprofi. Nadja Contzen hatte andere Ambitionen. «Ich wollte zur Kehrichtabfuhr und das Abfallsystem technologisch revolutionieren», erzählt sie schmunzelnd. Nichts sollte mehr verbrannt oder vergraben, alles sollte wiederverwertet werden. Schon im zarten Alter von vier, fünf Jahren sorgte sie für ihre erste kleine Revolution. «Ich habe bei uns im Kindergarten einen Kompost eingeführt. Ende Woche nahm ich ihn jeweils mit und kippte den Inhalt auf den Komposthaufen in unserem Familiengarten.» Contzen ist in einem Dorf am Zürichsee in einem umweltbewussten Haushalt aufgewachsen. Die Familie hatte kein Auto, die Mutter war in der Grünen Partei aktiv und alle Kinder mussten im Garten mit anpacken – die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit waren sehr präsent. Dass sie am Ende doch nicht bei der Kehrichtabfuhr Karriere machte, lag weniger an dem Buben in ihrer Kindergartenklasse, der zu ihr sagte, Mädchen könnten keine Müllmänner sein. «Mir wurde vielmehr klar, dass es für einen nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht nur neue Technologien braucht, sondern auch ein besseres Verständnis davon, wie und warum Menschen bestimmte Entscheidungen treffen und wie sich Verhaltensmuster ändern lassen.»
Dass Letzteres nicht so einfach ist, wie man sich das vielleicht erhofft, erlebte Contzen, die an der Universität Zürich Psychologie studiert hat, während ihrer Doktorarbeit an der Eawag hautnah. In Haiti und Äthiopien untersuchte sie, wie das Händewaschen als gesundheitliche Massnahme gefördert werden kann. «Manche Leute in meinem Bekanntenkreis konnten nicht nachvollziehen, warum das überhaupt erforscht werden muss. ‹Die sind doch selber schuld, wenn sie sich nicht die Hände waschen›, war ein Kommentar, der vereinzelt fiel.» Wenn man aber selber in solche Gegenden reise und mit der Lebensrealität vor Ort konfrontiert werde, verstehe man noch besser, warum Händewaschen insbesondere in diesem Kontext keine Selbstverständlichkeit ist. «In der ländlichen Gegend in Äthiopien, die ich besuchte, stehen einer Familie gerade mal 25 Liter Wasser pro Tag zur Verfügung – zum Trinken, Kochen, Waschen und Tränken der Jungtiere. Da bleibt nicht viel fürs Händewaschen übrig.» Hinzu kommt, dass es gar keine Handwaschinfrastruktur gibt. Das Wasser kommt nicht aus dem Hahn, sondern aus dem 25-Liter-Kanister, der einmal am Tag bei einer Wasserquelle aufgefüllt wird, was häufig einen Fussmarsch von einer Stunde und mehr erfordert. «Händewaschen bedeutet: Wasser aus dem Kanister in eine Tasse füllen, um sich dann, mit dem Wasser aus der Tasse, zuerst die eine Hand und dann die andere Hand nass zu machen. Dann einseifen und das Spiel mit der Tasse nochmals von vorn, um die Seife abzuspülen», erzählt Contzen. «Wenn man das mal selber macht merkt man erst, was für ein komplizierter, aufwendiger Akt Händewaschen sein kann, und versteht noch besser, warum es im Alltag der Menschen dort wenig Priorität hat.»
Technologie ist nur die halbe Miete
Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig dezentrale Wasseraufbereitungssysteme sind, wie etwa die von der Eawag entwickelte Wasserwand (siehe Artikel «Autarky – eine für alles»): Sie bieten an Orten ohne Wasseranschluss eine nutzerfreundliche Infrastruktur und ermöglichen es, dass Abwasser in einem autarken Kreislauf aufbereitet und etwa fürs Händewaschen wiederverwendet werden kann. «Innovative Technologien sind grundlegend. Sie ermöglichen wichtige Fortschritte im Bereich Trinkwasser, Sanitäreinrichtungen und Hygiene», sagt Contzen. Aber sie garantieren noch keinen Fortschritt. «Entscheidend ist, ob die Menschen diese Technologien überhaupt akzeptieren, nutzen und richtig anwenden.» Dort setzt die Forschung der Umweltgesundheitspsychologin an. Seit 2019 leitet sie die Forschungsgruppe Environmental Health Psychology an der Eawag. «Uns interessiert die menschliche Komponente. Welche Verhaltensmuster und Entscheide führen dazu, dass Menschen die Umwelt und ihre Gesundheit gefährden? Werden die Umwelt- und Gesundheitsrisiken überhaupt als solche wahrgenommen? Was braucht es, damit Menschen ihr Verhalten ändern oder neue Technologien akzeptieren und nutzen?»
Welche psychologischen Aspekte für den Erfolg dezentraler Wassertechnologien entscheidend sind, haben Contzen und ihre Gruppe beispielsweise im indischen Bengaluru untersucht. Die stark wachsenden Aussenbezirke der Stadt sind nicht ans zentrale Abwassersystem angeschlossen, weshalb eine dezentrale Wasseraufbereitung auf Gebäudeebene gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Kosten für Installation, Betrieb und Unterhalt der Anlage müssen die Bewohnerinnen und Bewohner selber tragen. «Die wahrgenommenen Vorteile – etwa die positiven Auswirkungen auf die Umwelt oder das positive Image, das mit der Nutzung eines solchen Systems einhergeht – erklären die Akzeptanz der Systeme am besten», fasst Contzen die Resultate der Befragung von Personen mit und ohne dezentrale Abwasseraufbereitungsanlage zusammen. «Wenn man ein solches System fördern will, sollte man daher vor allem die Vorteile hervorheben, statt die Kosten oder mögliche Risiken herunterzuspielen.» Kosten müssen also nicht zwingend eine Barriere für die Akzeptanz eines Systems sein. Grösser ist die Hürde jedoch, wenn eine Technologie eine Verhaltensanpassung voraussetzt, so wie etwa die Chlorung zur Desinfektion von Trinkwasser auf Haushaltsebene. «Die Menschen müssen erstmal Chlor kaufen, die richtige Menge abmessen und ins Wasser geben, das gechlorte Wasser umrühren und dann für mindestens eine halbe Stunde ruhen lassen. Man muss also vorausschauend planen», schildert Contzen. Eine aufwendige Routine, die erst erlernt werden muss.
Gemeinsam zu besseren Lösungen
Technologien und Verfahren zu entwickeln, die nicht nur eine einwandfreie Wasserqualität gewährleisten, sondern auch günstig und einfach nutzbar sind, ohne den Alltag der Menschen auf den Kopf zu stellen, sei eine grosse Herausforderung, sagt Eberhard Morgenroth. Er ist Umweltingenieur an der Eawag und hat das Projekt in Bengaluru begleitet. «Der Input von Sozialwissenschaftlerinnen wie Nadja Contzen ist für uns Ingenieure wahnsinnig wichtig und wertvoll», sagt Morgenroth. Die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. «Die interdisziplinäre Zusammenarbeit an der Eawag ist enorm bereichernd», findet auch Contzen.
Das Abfallrecycling hat sie (noch) nicht revolutioniert. Aber mit ihrer Forschung leistet die Umweltgesundheitspsychologin einen wichtigen Beitrag zum Recycling von Wasser, zum nachhaltigen Umgang mit dieser wertvollen Ressource und zur Verbesserung der Gesundheit im Globalen Süden.
Erstellt von Isabel Plana für das Infotag-Magazin 2023